Schmuck ist weit mehr als reines Beiwerk – er ist Kommunikationsmittel, Identitätsmarker und Spiegel gesellschaftlicher Machtverhältnisse. In nahezu allen prähistorischen Kulturen finden sich Belege dafür, dass Männer und Frauen gleichermaßen Körperschmuck trugen – von Muschelketten bis zu Tierzähnen – als Ausdruck von Gruppenzugehörigkeit und Status.
Im Alten Ägypten etwa war Goldschmuck nicht allein Frauen vorbehalten: Herrscherfiguren und hohe Beamte beiderlei Geschlechts trugen filigrane Armreifen, Halskragen und Ringe als Statuszeichen und Schutzamulette. Erst mit den europäischen Sumptuary Laws begann ab dem 16. Jahrhundert eine systematische Geschlechterdifferenzierung durch Schmuckvorschriften: In Genua des Jahres 1594 wurde etwa in einem einzigen Erlass festgelegt, welche Materialien und Ornamente Männer, welche Frauen öffentlich tragen durften – eine klare Trennung entlang binärer Rollen Cambridge University Press & Assessment.
Im Zuge der Napoleonischen Kriege und der Etablierung des bürgerlichen Anzugs ab dem 19. Jahrhundert verband sich Männlichkeit zunehmend mit Schmuckverzicht: Uhr und Manschettenknöpfe waren die einzigen erlaubten Accessoires, während Frauen weiterhin Silberschmuck und Perlen trugen.
Namita Gupta Wiggers weist in „Contemporary Jewelry in Perspective“ darauf hin, dass Schmuckformen konzeptionell und ästhetisch weitgehend mit dem weiblichen Körper verbunden bleiben. Weiterhin sagt sie, dass Frauen von Kindheit an eingeschärft wird, Schmuck als Zeichen des Erwachsenwerdens zu betrachten. Auch heute noch werden Jungen zu Rollenspielen ermutigt und junge Mädchen dazu, sich mit den Schmuckkästchen ihrer Mütter und Großmütter zu verkleiden.
Doch mit dem Aufbruch der Moderne begann ein vereinzeltes, schrittweises Aufweichen dieser starren Kodizes. In den 1970er-Jahren nutzte Vivienne Westwood (1941–2022) Schmuck als politisches Statement gegen etablierte Geschlechternormen: In ihrer legendären Boutique SEX auf der Londoner King’s Road präsentierte sie Nietenketten und Sicherheitsnadeln als Rebellion gegen bürgerliche Konventionen. Ihre Entwürfe spielten bewusst mit maskulinen und femininen Proportionen und stellten das Establishment in Frage – ein Akt performativer Polit-Aktion.
Heute, im 21. Jahrhundert, erleben wir eine erneute Verschiebung: Schmuck ist nicht länger automatisch weiblich oder männlich. Die Berliner Designerin Esther Perbandt betont in ihrem Interview bei Deutschlandfunk Kultur, sie gestalte „für Menschen, nicht für Geschlechter“. Ihre Kollektionen kombinieren klare Schnitte aus der Herrenmode stammend mit breiten Gliederketten und filigranen Colliers, die gleichermaßen von allen getragen werden. Damit setzt Perbandt Schmuck als Ausdruck individueller Haltung, jenseits traditioneller Dichotomien, ein.
Parallel dazu hinterfragen auch prominente Männer in der Pop- und Modeszene die Binärschablonen: Harry Styles, Timothée Chalamet und Lars Eidinger tragen heute Perlenschmuck und feine Ringe bei offiziellen Auftritten– nicht als ironische Performance, sondern als ehrliches Statement für eine fluide Identität. Die Independent konstatiert: „From Harry Styles to Timothée Chalamet – why pearls are the hottest accessory for men right now“ So wird Perlenschmuck für Männer nicht nur modischer Trend, sondern Teil einer subtilen Aushandlung von Männlichkeit, die alte Machtspiele unterläuft. In diesem Sinn spricht der Mode- und Männlichkeitsforscher Toni Tholen von „hybrider Männlichkeit“, weil ehemals als feminin kodierte Elemente heute souverän in das männliche Inszenierungskit integriert werden, ohne die privilegierte Dominanz männlicher Identitäten infrage zu stellen.
In all diesen Entwicklungen zeigt sich: Schmuck bleibt ein vielschichtiges soziales Artefakt. Wo er früher klare binäre Grenzen zog, ermöglicht er heute einen performativen Spielraum, in dem Individuum und Kollektiv neue Bedeutungen aushandeln können. Ob als Protestsymbol in Westwoods Nietenketten, als soziales Statement bei Perbandts Unisex-Kollektionen oder als persönliches Statement moderner Männer mit Perlenkette – Schmuck spiegelt und gestaltet fortlaufend unsere Vorstellungen von Geschlecht, Macht und Identität.