Zeitgenössischer Schmuck entzieht sich einfachen Definitionen. Er ist nicht nur schöner Zierrat, sondern oft ein künstlerisches, gesellschaftliches oder sogar politisches Statement. Er kann aus Edelmetall bestehen – muss es aber nicht. Er kann tragbar sein – muss es aber auch nicht. Was zählt, ist die Idee dahinter. Der amerikanische Schmuckkünstler und Theoretiker Bruce Metcalf beschreibt zeitgenössischen Schmuck nicht als starre Kategorie, sondern als Praxis, die sich mit verschiedenen Traditionen, Materialien und kulturellen Kontexten auseinandersetzt. Häufig ist er in Handarbeit entstanden und nutzt klassische Techniken – doch gleichzeitig experimentiert er mit Form, Funktion und Bedeutung. Die Kunsthistorikerin Liesbeth den Besten fasst unter dem Begriff zeitgenössischer Schmuck verschiedene Strömungen zusammen: contemporary jewelry, studio jewelry, art jewelry, research jewelry, design jewelry und author jewelry. Allen gemeinsam ist der Anspruch, über das rein Dekorative hinauszugehen. Schmuck wird hier als Ausdrucksmittel verstanden – als Medium für Ideen, Kritik und Reflexion. Zeitgenössischer Schmuck ist also weniger eine Stilrichtung als eine Haltung: eine bewusste Abkehr vom Schmuck als Statussymbol und ein Hinwenden zu Fragen wie: Was bedeutet es, ein Schmuckstück zu tragen? Was kann Schmuck heute sagen – über uns, über unsere Zeit, über unseren Körper?
Otto Künzli und der Schmuck als Konzept
Ein herausragender Vertreter des konzeptuellen Schmucks ist der Schweizer Künstler Otto Künzli (*1948), der über viele Jahre an der Akademie der Bildenden Künste in München lehrte. Seine Arbeiten sind Paradebeispiele dafür, wie Schmuck als Träger von Ideen funktioniert – nicht als dekoratives Objekt, sondern als künstlerisches Medium, das Fragen stellt, provoziert und Bedeutungen hinterfragt. Ein berühmtes Werk von Künzli trägt den Titel „Gold macht blind“: Eine schlichter, schwarzer Armreifen aus Gummi mit einer kugelartigen Verdickung– völlig unspektakulär. Doch laut Künzli befindet sich in ihrem Inneren eine massive Goldkugel. Die Kugel ist da, aber unsichtbar für den Betrachter. Das Werk spielt mit Erwartungen, Wertzuschreibungen und dem blinden Vertrauen in das, was man nicht sehen kann. Es hinterfragt zugleich den Goldrausch, den Statuswert von Edelmetall und die Oberflächlichkeit, mit der Schmuck oft betrachtet wird. Künzlis Arbeiten machen deutlich: Im zeitgenössischen Schmuck geht es nicht primär um Materialwert oder traditionelle Schönheit, sondern um Konzepte, Ironie, Kritik – um die Auseinandersetzung mit dem, was Schmuck bedeutet. Der Körper wird dabei zur Bühne, zum Ort, an dem gesellschaftliche Fragen verhandelt werden. In diesem Sinn unterscheidet sich zeitgenössischer Schmuck grundlegend vom klassischen Schmuckverständnis. Materialien und Techniken treten in den Hintergrund – sie stehen im Dienst der Idee.
Schmuck als politisches Statement
Zeitgenössischer Schmuck ist nicht nur schön oder ungewöhnlich – er kann auch politisch sein. Denn sobald Schmuck nicht nur den Körper schmückt, sondern auch Aussagen trifft, wird er zum Medium gesellschaftlicher Reflexion. Themen wie Gender, Macht, Konsum, Umwelt oder Identität finden in tragbaren Kunstwerken ihren Ausdruck.
Einige Künstler:innen verwenden Schmuck, um auf soziale Ungleichheit aufmerksam zu machen, koloniale Geschichten sichtbar zu machen oder patriarchale Schönheitsideale zu hinterfragen. Andere setzen sich mit Herkunft, Zugehörigkeit oder Körperbildern auseinander. Schmuck wird in diesem Kontext nicht nur getragen, sondern auch kommuniziert – er fordert den Blick heraus, provoziert oder irritiert.
Wie in der bildenden Kunst, so spielt auch im Schmuckbereich die Kontextualisierung eine große Rolle: In welcher Umgebung wird ein Stück gezeigt? Wer trägt es – und wie? Wird es überhaupt getragen oder nur ausgestellt? All diese Fragen machen deutlich: Schmuck kann ein Werkzeug des Widerstands und ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse oder Veränderungen sein.
Unkonventionelle Materialien: Vom Alltagsgegenstand zum Kunstobjekt
Ein weiteres zentrales Merkmal zeitgenössischen Schmucks ist der experimentelle Umgang mit Materialien. Statt Gold und Diamanten kommen Kunststoff, Papier, Beton, Textilien, Haare, Konservendosen oder Fundstücke vom Flohmarkt zum Einsatz. Der materielle „Wert“ rückt in den Hintergrund – entscheidend ist, was das Material erzählt.
Diese Wahl ist oft programmatisch: Alltägliches wird in den künstlerischen Kontext überführt und erhält neue Bedeutung. Dadurch werden gewohnte Wahrnehmungen aufgebrochen, der traditionelle Schmuckbegriff erweitert sich, Grenzen werden verschoben.
Diese Materialwahl stellt nicht nur traditionelle Vorstellungen infrage, sondern ermöglicht auch eine größere Nähe zur Betrachter:in. Es entsteht ein Spiel mit Erwartungen, mit Vertrautem und Verfremdetem – ein ästhetischer und oft humorvoller Perspektivwechsel, der zum Nachdenken einlädt.
Felieke van den Leest: Schmuck als tragbare Fabel
Ein wunderbar verspieltes Beispiel für zeitgenössischen Schmuck liefert die niederländische Künstlerin Felieke van der Leest (*1968). Sie studierte an der Gerrit Rietveld Akademie in Amsterdam und verbindet in ihren Arbeiten Goldschmiedetechnik mit Textilkunst, Spielzeug und Humor.
Ihre Stücke wirken wie Miniaturfabeln: Häkeltechniken, Plastikspielzeug, Edelmetall und Edelsteine verschmelzen zu tragbaren Geschichten. Tierfiguren, Kindheitserinnerungen, Zirkusmotive – all das taucht in ihren Objekten auf. Doch hinter der verspielten Oberfläche lauert oft eine subtile Gesellschaftskritik: Die Tierfiguren sind manchmal ironische Kommentare auf Machtverhältnisse, Konsum oder Umweltzerstörung.
Van der Leests Schmuck fordert den Blick heraus, irritiert und weckt gleichzeitig kindliche Freude. Ihre Arbeit zeigt exemplarisch, wie zeitgenössischer Schmuck Humor, Nostalgie und gesellschaftliche Fragen vereint.
Denise Reytan: Bunte Collagen aus abgeformten Fundstücken
Denise Reytan (*1984) lebt und arbeitet in Berlin. Sie verbindet Edelmetalle, Edelsteine, Silikon und Plastik zu tragbaren Collagen. Ihre farbenfrohen Stücke wirken spontan, sind aber präzise komponiert.
Reytan spricht in einem Interview von „Materialmalerei“: Für sie ist Schmuck wie ein Bild, das um den Hals oder das Handgelenk getragen wird. Sie sammelt Materialien, kombiniert Fundstücke mit wertvollen Steinen und erschafft so eine neue Ästhetik zwischen Design, Kunst und Kunsthandwerk.
Ihre Serie „Precious Plastic“ macht diese Haltung deutlich: Plastikreste werden mit Silber und Edelsteinen verbunden – der Wert des Abfalls wird aufgewertet, der Wert des Edelmetalls relativiert. In Werken wie ihrer skulpturalen Uhr „Timepeace“, auf der man keine Zeit ablesen kann, hinterfragt sie Konventionen. Sie will mit ihrer Uhr den Träger daran erinnern, dass der Moment die wertvollste Zeit ist, den man genießen sollte. Schmuck wird bei ihr zur Einladung, sich von gewohnten Kategorien zu lösen.
Jiro Kamata: Licht, Reflexion, Perspektive
Der in München lebende Japanar Jiro Kamata (*1978) ist ebenfalls ein sehr interessanter Vertreter von modernem Schmuck. Kamata stammt aus einer japanischen Juweliersfamilie und wollte als Kind auf keinen Fall Goldschmied werden. Heute lebt Kamata in München, wo er an der Akademie der Bildenden Künste bei Otto Künzli studierte und von 2009 – 2015 dessen Assistent war.
Kamata arbeitet mit ungewöhnlichen Materialien wie gebrauchten Kameralinsen, Spiegeln und Sonnenschutzgläsern. Seine Schmuckstücke spielen mit Reflexionen und Perspektivwechseln: Der Blick wird gelenkt, verzerrt, verdoppelt.
In Serien wie „Void“ oder „Parallax“ untersucht er, wie wir sehen – und gesehen werden. Der Körper wird zur Projektionsfläche für Licht und Schatten. Kamatas Arbeiten zeigen exemplarisch die Verbindung von Handwerk, Technologie und poetischem Konzept.
Schmuck, der Fragen stellt
Zeitgenössischer Schmuck ist tragbar, aber oft auch tragender Gedanke: Er macht den Körper zur Bühne, die Idee sichtbar, die Träger:in zum aktiven Teil eines Dialogs. Er verhandelt Schönheit, Wert, Besitz, Identität – und überschreitet dabei ständig die Grenzen zwischen Kunst, Design und sozialem Kontext.
Ob Otto Künzlis unsichtbares Gold, Felieke van der Leests Häkel-Fabeln, Denise Reytans farbige Collagen oder Jiro Kamatas Spiegelobjekte: Zeitgenössischer Schmuck ist eine Einladung, genauer hinzusehen – und weiterzudenken.
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